In der dritten Klasse verändert sich mit der gesunden Entwicklung des Kindes das Lernen und das Verhältnis zur Welt. Vorbild und Nachahmung treten zurück, das Kind fühlt sich nicht mehr eins mit Welt und mit ihr zutiefst verbunden, sondern beginnt, sich nun selbst als ein Ich erlebend, dieser wacher und kritischer gegenüber zu treten.
Mit der beginnenden Emanzipation des Seelenlebens hinterfragt das Kind Lehrer und Eltern und es ist nicht mehr selbstverständlich, dass das Kind diesen folgt. Fingerspitzengefühl ist gefragt, das Kind braucht immer noch klare Strukturen und Regeln, doch die selbstverständliche Autorität des Erwachsenen wird durch dessen Authentizität und autoritative Persönlichkeit abgelöst.
Dieser Rubikon, ein Schritt aus der langjährigen Sicherheit, geht teils einher mit Ängsten, es ist ein Wachwerden mit dem oft schmerzhaften Bewusstsein, dass sich die Tür zur ersten Kindheit unwiderruflich geschlossen hat, eine Orientierungslosigkeit, aber auch ein neues Bewusstsein des eigenen Ich.
Die Waldorfpädagogik greift diese wichtige Entwicklungsphase mit allen Unterrichtsfächern und -themen auf, beginnend mit der Schöpfungsgeschichte, der Vertreibung aus dem Paradies als ein erstes Einsamkeitserlebnis. Drei besondere Epochen unterstützen diesen Entwicklungsschritt in diesem Schuljahr: die Ackerbauepoche, wo das Kind erlebt, wie mit der eigenen Kraft im Klassenverband das Feld bestellt werden kann, es trotzdem in den Kreislauf der Natur eingebunden ist, die Handwerker- und die Hausbauepoche.
Weiterlesen: HandwerkerepocheIn der Handwerkerepoche erfährt das Kind, dass es mit den eigenen Händen etwas Gutes, Sinnvolles und Schönes erschaffen kann, es wird befähigt, seine Werkstücke nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Es lernt Erwachsene kennen, die mit ihrer Hände Arbeit anderen Menschen dienen, Meister ihres Fachs sind und mit ihrer Arbeit das Leben auf unserer Erde verbessern.
Im Rahmen der Handwerkerepoche lernten unsere Kinder viele verschiedene Handwerksberufe kennen, und das nicht in der Theorie, sondern durch eigenes, praktisches Tun.
Die erste Woche widmete sich den Berufen der Wollverarbeitung. Mit fachkundiger Hilfe unserer Handarbeitslehrerin Frau Weinthal webten die Kinder mit Hilfe eines Brettes und ein paar Nägeln bunte Bänder in der kabulischen Webtechnik. Es war schön zu sehen, dass die Kinder, sobald sie das System verstanden hatten, dieses ihren Klassenkameraden souverän vermitteln konnten und sich gegenseitig unterstützten. Beim anschließenden Filzen waren Fingerspitzengefühl, Ausdauer und Schönheitssinn gefragt. Es entstanden praktische Taschen, die mit unseren Bändern und selbst gesägten Holzknöpfen versehen schnell ihre Bestimmung fanden.
In der zweiten Woche besuchte unsere Schule erstmalig ein richtiger Seiler. Niemand wusste vorher, wie Seile überhaupt gemacht wurden. Wir benötigten dafür einen langen Raum, unsere Sporthalle, und es war interessant zu sehen, wie viele Meter Hanfschnur zunächst zwischen Seilgeschirr und Nachschlitten hin und her gezogen werden mussten, bevor das Seil überhaupt „geschlagen“ werden konnte, und wie dann, wenn ein paar Kinder sich an der Kurbel abwechselten und alle anderen dafür Sorge trugen, dass sich nichts verdrehte und verhedderte, mit dem schnellen Wandern des Leitholzes, was der Seiler führte, dann im Handumdrehen ein gleichmäßiges Seil entstand. Nun haben wir ein dickes Seil zum Tauziehen und zwei lange Springseile, mit denen viele Kinder gleichzeitig springen können. Der Seiler war sehr zufrieden mit unserer Arbeit!
Dass man ein gutes Auge braucht und seine Kraft wohldosiert einsetzen muss, erlebten wir beim Schmieden. Alle vier Elemente waren dabei involviert, so hörten wir von unserem Schmied, Herrn Bayer: Die Erde schenkte uns das Eisenerz und die Kohle, das Feuer lebte von der Luft und glühte das Eisen, das Wasser kühlte und härtete dieses. Stolz durften alle Kinder ihren eigenen, selbst geschmiedeten Nagel mit nach Hause nehmen.
Beeindruckend alleine waren schon die schweren Werkzeuge, die uns beim Steinmetzen Herr Massone vorführte. Wir erfuhren, dass nicht Kraft alleine, sondern ein gutes Gefühl für Proportionen und Dreidimensionalität sowie ein Wissen um das individuelle Verhalten der verschiedenen Steine dieses uralte Handwerk auszeichnet. Alle Kinder durften sich an dem großen „Klassen- Sandstein“ sowie an den viel weicheren Specksteinen ausprobieren und so manches Schmuckstück entstand.
In die handwerkliche Milchverarbeitung führte uns ein Vater aus der Klasse ein. Wir lernten, was man aus Milch alles machen kann, woraus Milch besteht und welches Tier uns überhaupt Milch schenken kann und warum. Mit Hitze und Zitronensaft brachten wir die Milch zum Gerinnen und konnten am Ende des Hauptunterrichtes den eigenen Frischkäse, ob süß oder salzig verfeinert, auf frischem Baguette probieren. Lecker!
Den Beruf des Malers stellte uns ebenfalls ein Vater vor. Wir staunten über die Vielfalt der Farben, die Vielseitigkeit dieses Berufes und bekamen einen sehr authentischen Eindruck von diesem Beruf.
Was diese Epoche so bereichert hat, waren das praktischen Tun, welches unseren Drittklässlern Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein vermittelte und das Engagement so vieler Menschen, die uns ihre Freude am Handwerk vermitteln konnten und uns Beispiel und Vorbild wurden mit Wissen und Können und Liebe zum Menschen und zum Tun.
Sabine Lüdtke-Becker