Flinke Hände - flinker Kopf | Freie Waldorfschule Saar-Hunsrück

Flinke Hände – flinker Kopf

Ein paar Gedanken über den Handarbeitsunterricht an der Waldorfschule…

Wie schön ist es doch zu erleben, wenn man besonders die 1. Klässler in ihren Handarbeitsstunden beobachten kann.

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Hochkonzentriert und meist mit roten Wangen erlernen sie in wirklich jeder dieser Stunden das Stricken. Anfänglich wird diese neue Technik noch mit den Ausrufen „Oh, das lerne ich bestimmt nie“ oder „Das es so schwer ist, hätte ich nicht gedacht“, begleitet.

Und dennoch, alle lernen bis zu den Winterferien das eigenständige Stricken. 

Erstaunlich ist für mich mit jeder neuen Klasse die ich unterrichten darf, mit welchem Willen und welcher Ausdauer die Schüler sich dieser anspruchsvollen und komplexen Tätigkeit ihrer Hände hingeben und welch ein Geschenk es auch für mich ist, den Stolz der Kinder über ihr erstes fertiges Werkstück mit erleben zu können.

Warum unterrichten die Waldorfschulen seit 100 Jahren – und das eindeutig gegen den aktuellen Trend der meisten Schulen – dieses Fach? Gerade in der heutigen Zeit, wo doch durch die Technisierung der Welt alles von Maschinen hergestellt werden kann.

Warum Socken oder Mützen selbst stricken, wenn es doch viel günstiger und mit deutlich weniger Arbeitseinsatz sonst wo erstanden werden kann?

Ist es nicht eher „Old School“, dass dieses Fach an unseren Schulen nach wie vor einen hohen Stellwert hat?

Rudolf Steiner sagte bereits im April 1920 im sogenannten „Basler Lehrerkurs Nachfolgendes:

Wenn man weiß, dass unser Intellekt nicht dadurch gebildet wird, dass wir direkt losgehen auf die intellektuelle Bildung, wenn man weiß, dass jemand, der ungeschickt die Finger bewegt, einen ungeschickten Intellekt hat, wenig biegsame Ideen und Gedanken hat, während derjenige, der seine Finger ordentlich zu bewegen weiß, auch biegsame Gedanken und Ideen hat, hineingehen kann in die Wesenheit der Dinge, dann wird man nicht unterschätzen, was es heißt, den äußeren Menschen mit dem Ziel zu entwickeln, dass aus der ganzen Handhabung des äußeren Menschen der Intellekt als ein Stück hervorgeht.

(Rudolf Steiner, GA 301, 5. Vortrag vom 26. April 1920)

Heute ist Steiners Aussage, dass wir mit einer gut ausgebildete Feinmotorik auch unsere Gedächtnisleistung im Positiven unterstützen, mehrfach wissenschaftlich belegt worden.
(S. Suggate 2014, M. Spitzer, G. Hüther, E.M. Kranich u.v.m.)

Ursprünglich mag der Zusammenhang der Handgeschicklichkeit mit der Gehirnentwicklung tatsächlich der Grund gewesen zu sein, Kunst und Handwerk im Stundenplan der Waldorfschulen zu verankern und bis in die heutige Zeit daran fest zu halten. Dennoch gibt es auch noch weitere Gründe warum die Schüler sich in besonderer Weise mit diesem Fach verbinden können.

Die Tatsache, mit den eigenen Händen etwas erschaffen zu können, erfüllte den Menschen schon immer mit Freude und Stolz und fördert so in nicht unerheblichem Maße sein Selbstbewusstsein. Ein selbstbewusster Mensch ergreift auch bewusst und schöpferisch-tätig sein Leben und somit seine Umwelt.

Zusätzlich fördern wir mit diesem Fach die Sinne, insbesondere den Tast- und Eigenbewegungssinn. Gut entwickelte basale Sinne, zu denen sowohl die beiden genannten Sinne, aber auch der Gleichgewichts- und Lebenssinn gehören, bilden wichtige Lernvoraussetzungen. Ganz nebenbei schulen wir durch die Auswahl und Farben der Materialien den Schönheitssinn der Kinder. Und da sowohl Mädchen, als auch Jungs nebeneinandersitzend alle Handarbeitstechniken zusammen erlernen, wird durch dieses Fach auch noch die Sozialkompetenz geschult. Es gibt kein „das ist nur für Jungs“ oder das ist „nur für Mädchen“- Denken durch die Handarbeit. Alle können alle Dinge erlernen, wenn man sich nur darauf einlassen kann. Das lebt in schönster Weise in den Handarbeitsstunden und kann sich bei guter pädagogischer Unterstützung bis in die 12. Klasse weiterentwickeln, ähnlich wie sich auch die Techniken des Faches mit dem Schüler bis in die Oberstufe weiterentwickeln.

In den ersten drei Klassenstufen wird das Stricken und Häkeln angelegt und verfeinert.

Mit dem Sticken in der 4. Klasse findet eine weitere Differenzierung des Feinmotorischen statt, auch wird mit den Stickarbeiten das individualisierte freie künstlerische Gestalten weiter geschult.

Mit der weiteren intellektuellen Entwicklung werden in der 5. Klasse mit 5 Nadeln Socken gestrickt, in der 6. und 7. Klasse entwerfen die Schüler nach eigenen Zeichnungen und Schnitten ein Tier, Marionetten bzw. Hausschuhe – das alles wird noch von Hand genäht und im Anschluss in der 8./9. Klasse gesellt sich das Nähen mit der Nähmaschine dazu. Erweitert wird das Nähen mit der Maschine in der 9. Klasse, zu dem erlernen die Schüler das Korbflechten. Spinnen und Weben sind in der Regel Stundenplaninhalt der 10. Klasse.

Die Klassen 11 und 12 beschäftigen sich dann zum Abschluss der Waldorfschulzeit mit der Herstellung von Kartonagen und der Buchbinderei. Beides erfordert von den Schülern neben handwerklichem Geschick auch mathematische Kenntnisse und Genauigkeit im Arbeiten.

So schließt sich dann der Kreis des Lernens mit Hand, Herz & Kopf.

Stephanie Mandel-Mohr
(Fachlehrerin Handarbeit und anthroposophische Förderlehrerin)

(Anmerkung des Autors: Die alleinige Verwendung „Schüler” im Text soll der Erleichterung des Lesens dienen und stellt keine Diskriminierung eines/mehrerer Geschlechter dar.)

Photos: Elsa Busenius, Stephanie Mandel-Mohr